Die Demografie ist eine Wissenschaft, die mit Hilfe statistischer Methoden beschreibt, wie sich Bevölkerungsstrukturen verändern. Das Schlagwort „demografische Entwicklung“ ist seit einigen Jahren untrennbar verbunden mit dem Alterungsprozess unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen hierzulande werden immer älter und beeindrucken auch im höheren Lebensalter durch enorme Vitalität. Dagegen schrumpft die junge Generation: Frauen bringen statistisch gesehen nur noch 1,5 Kinder zur Welt. Diese Fakten werden unser gewohntes soziales Gefüge gewaltig verschieben – das lässt sich nicht mehr aufhalten.
„Wir müssen uns auf diese veränderte Zukunft vorbereiten“, sagt Thaddäus Kunzmann, Demografiebeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Bei der digitalen Vorstandssitzung des Landesverbands der Senioren-Union informierte er am Beispiel der Handlungsfelder „Wohnen“ und „Digitalisierung“ über Herausforderungen und Aufgaben, die sich nicht länger ignorieren lassen. „Der Langzeitblick ist gefragt, wir müssen uns jetzt kümmern“, mahnt der Thaddäus Kunzmann. „Demografie ist eine Querschnittsaufgabe.“
Entwicklung mit hoher Dynamik
Die Zahlen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg sprechen eine klare Sprache. Heute gibt es im Land ca. 115.000 über 90-Jährige, im Jahr 2040 werden es knapp 200.000 sein und im Jahr 2060 ca. 420.000.
Dramatisch verändern wird sich das zahlenmäßige Verhältnis der 90-Jährigen zu den 56- und 35-Jährigen. Im Jahr 2020 kamen auf einen 90-Jährigen 6,9 Menschen im Alter von 56 Jahren und 5,4 Menschen im Alter von 35. Im Jahr 2054 wird es so aussehen: Auf einen 90-Jährigen kommen zwei 56-Jährige und 1,9 Menschen im Alter von 35.
Auch die Familienarrangements haben sich verschoben und werden sich weiter ändern. 72 Prozent der Haushalte in Baden-Württemberg sind bereits jetzt Ein- und Zweipersonenhaushalte.
Wie leben Senioren heute und in Zukunft?
Die Altersgruppe 65+ lebt aktuell zu 93 Prozent in normalen Häusern und Wohnungen. Vier Prozent wohnen in einem Pflegeheim, zwei Prozent im „Betreuten Wohnen“, weniger als ein Prozent im „Gemeinsamen Wohnen“. Das gemeinsame Wohnen in zum Beispiel Mehrgenerationenhäusern ist im gesamten Bundesgebiet eine extreme Nische, nur ca. 100.000 Menschen leben bundesweit in dieser Wohnform. 55 Prozent der Senioren wohnen im Eigentum, 45 Prozent in Miete. Wer im Eigentum lebt, verfügt häufig über eine große Wohnfläche, im Durchschnitt 109 qm je Wohnung. Mieter verfügen im Durchschnitt über 74 qm je Wohnung. 85 Prozent der von Senioren bewohnen Wohnungen und Häuser sind älter als 30 Jahre alt, die in der Regel nicht altersgerecht ausgestattet sind.
Zukunftsaufgaben für den Wohnungsbau
Nach Ansicht des Demografiebeauftragten Kunzmann ist es – auch aus demografischer Sicht – wichtig, den Wohnungsbau weiter als öffentliche Aufgabe zu sehen. Für bedarfsgerecht hält er eine deutliche Erhöhung der KfW-Mittel für den altersgerechten Umbau, diese betragen zur Zeit 100 Mio. Euro pro Jahr. Erforderlich wäre ein landesweit angesiedeltes Kompetenzzentrum, das Architekten und Handwerker sowie ehrenamtliche Wohnraumberater berät, auch im Hinblick auf „smart-home“-Entwicklungen. Mindestens in jedem Landkreis müsste es eine gesicherte Wohnumbauberatung geben. In privaten Mietwohnungen sollte ein altersgerechter Wohnungsumbau gefördert werden. Für wünschenswert hält Thaddäus Kunzmann eine flächendeckende Quartiersarbeit, die der Einsamkeit insbesondere älterer Menschen vorbeugt, denn Einsamkeit könne im Alter zur Geisel werden. Nicht zuletzt muss die Nahversorgung in Wohngebieten sichergestellt werden.
Kommentar: Keine Überraschung
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Zurzeit kommen auf einen 90-Jährigen knapp 7 Menschen im Alter von 56 Jahren und gut 5 Menschen im Alter von 35. Im Jahr 2054 wird es so aussehen: Auf einen 90-Jährigen kommen nur 2 (!) 56-Jährige und weniger als 2 (!) Menschen im Alter von 35. Dazwischen tummeln sich noch jede Menge 70- bis 80-Jährige im beruflichen Ruhestand.
Nichts lässt daran mehr ändern. Denn die 35-Jährigen des Jahres 2054 sind schon 2019 geboren. Welch gewaltige gesellschaftliche Verschiebungen das gibt, ist kaum vorstellbar. Ganz abgesehen davon, dass der Generationenvertrag unseres Rentensystems schwer ins Trudeln gerät. Wie hoch müssen die Lohnnebenkosten klettern, um die Sozialkassen zu füllen? Wie hoch werden die Steuern steigen müssen, um Defizite auszugleichen? Je früher die Politik Konzepte für eine bald sehr hochaltrige Bevölkerung entwickelt, umso besser.
Wir stehen vor Umbrüchen, die mit Langzeitblick gemeistert werden müssen. Kein Politikbereich darf sich verstecken, jedes Handlungsfeld muss die demografische Entwicklung mit einbinden. Dass die Zukunft immer wieder für Überraschungen gut ist, hat uns die Corona-Pandemie gezeigt. Die Altersstruktur der Bevölkerung ist keine Überraschung, sie kann und muss schon jetzt Bestandteil aller verantwortungsvollen Planungen werden.
Die Autorin
Reinhild Berger
Reinhild Berger ist Apothekerin im Ruhestand und Fachjournalistin. In der Senioren-Union ist sie aktiv als - Pressereferentin im Landesvorstand Baden-Württemberg und im Bezirksvorstand Nordwürttemberg - Beisitzerin im Kreisvorstand Ludwigsburg - Beisitzerin im Vorstand des Stadtverbands Ludwigsburg u. U.
Internet-Zugang für alle Senioren
Im Jahr 2017 gaben bereits 80,9 Prozent der 67-72-Jährigen an, Zugang zum Internet zu haben. Im Alter von 73-78 Jahren waren es 64,4 Prozent, in der Altersgruppe 79-84 waren es knapp 40 Prozent. Die Zahlen dürften sich, nicht zuletzt durch die Pandemie, in der letzten Zeit noch erhöht haben. Dennoch darf nicht übersehen werden: Der Zugang zum Internet ist gerade bei Hochaltrigen eine Bildungsfrage. Je höher der Bildungsgrad, umso höher die Internet-Nutzung. Ziel muss es sein, so Thaddäus Kunzmann, allen Senioren den Zugang zum Internet zu ermöglichen.
Digitale Anwendungen im Trend
Die Corona-Pandemie hat der Telemedizin einen mächtigen Schub verliehen. Im Februar 2020 haben in ganz Baden-Württemberg nur neun Ärzte bzw. Psychotherapeuten Videosprechstunden angeboten. Anfang 2021 hat sich deren Zahl auf rasante 6.200 erhöht. Weitere Steigerungen sind zu erwarten – und für Seniorinnen und Senioren als zusätzliche Facette im hausärztlichen Betreuungsangebot durchaus von Vorteil. Weit verbreitet ist in der älteren Generation bereits jetzt das Online-Banking, die Verwendung von Skype und WhatsApp zur Kommunikation mit der Familie sowie ganz allgemein die Recherche im Internet und das Online-Shopping. Immer mehr Senioren nutzen auch soziale Netzwerke, Reiseportale, den Online-Kauf von Tickets aller Art, Navigations-systeme, Musik-Apps sowie Internet-Fernsehen und Bezahl-TV. Im Kommen sind sprachgesteuerte, internetbasierte Asisstenten wie Alexa oder Magenta, die auf Zuruf Befehle umsetzen und so das Leben im „Smart Home“ erleichtern sollen. „Die Digitalisierung ist auch im Rentnerhaushalt angekommen“, sagt Thaddäus Kunzmann.
„Smart Home“ - ein Modell für Senioren?
Smart Home ist der Oberbegriff für technische Verfahren und vernetzte Systeme sowie automatisierte Abläufe in Wohnräumen und Häusern. Ziel ist es, die Wohn- und Lebensqualitätzuerhöhen, Sicherheit zu gewährleisten und Energieeffizienter zu nutzen. Schon jetzt gibt es Modelle und Musterwohnungen, wo sich Senioren informieren und beraten lassen können. Einige Anwendungen lassen sich über die Kranken- oder Pflegeversicherung bzw. das KfW-Förderprogramm „Altersgerecht umbauen“ finanzieren. Als Beispiele nannte Thaddäus Kunzmann Hausnotrufsysteme, Lichtkonzepte für die Orientierung in der Nacht, einfache Haushalts- und Assistenzroboter, die Gegenstände anreichen, als Stütz- und Aufstehhilfe dienen oder auch selbstständig die Videokommunikation mit Angehörigen aufbauen.
Smarte Mobilität
Hochaltrige wollen mobil sein – auch hier gibt es digitale Unterstützung, die zukünftig verstärkt zum Einsatz kommen könnte. Mobilitätshilfen wie Rollatoren und Rollstühle könnten, mit digitalen Assistenzsystemen aufgerüstet, noch mehr Komfort bieten. Spezielle Apps könnten das Bewegungstraining fördern und protokollieren. Mit Hilfe des Smartphones ließen sich Personen, Gegenstände, Fahrzeuge sicher orten.
Noch Zukunftsmusik ist das autonome Fahren – insbesondere im ländlichen Raum zur Erweiterung des Nahverkehrs.
Nicht alles ist nutzerfreundlich
Bei allen Vorzügen digitaler Anwendungen: in der Praxis läuft längst nicht alles perfekt. „Es reicht nicht, dass wir die Geräte haben, man muss sie auch bedienen können“, so lässt sich die Kritik zwar williger, aber doch frustrierter Senioren auf den Punkt bringen. Einfache Handhabung und selbsterklärende, intuitiveBedienung sind eher Mangelware. Thaddäus Kunzmann ist sich dessen bewusst und fordert: Digitale Helfer müssen noch nutzerfreundlicher werden, um Akzeptanz zu finden. Diskussionswürdig wäre auch eine Art Qualitätssiegel, das eine unkomplizierte Anwendung bescheinigt und beim potentiellen Käufer bzw. Nutzer Vertrauen schafft.
Einsamkeit im Alter verhindern
Letztlich sollte man auch immer bedenken: Digitale Hilfen können zwar das Leben erleichtern, sie sind aber kein Ersatz für menschliche Zuwendung und persönliche, soziale Kontakte. Einsamkeit im Alter zu verhindern, ist eine der großen Herausforderungen, die nicht in den Hintergrund geraten darf. Schon jetzt leidet jeder Fünfte über 65 an einer Depression. Armut und Krankheit begünstigen die Isolation von Betroffenen. Es ist eine Aufgabe für Politik und Gesellschaft, hochaltrige und nicht so mobile Menschen in das öffentliche Leben einzubinden.
Demografie hoch ansiedeln
Leider werde Demografie noch viel zu häufig als „Sozialgedöns“ angesehen, bedauert der Thaddäus Kunzmann. Er wünscht sich, dass seine Position als Beauftragter der Landesregierung im Staatsministerium höher angesiedelt wird. Als Teil des Sozialministeriums stoße er zu leicht an seine Grenzen. „Demografie ist in der Nische fehl am Platz“, so Thaddäus Kunzmann. Und vor allem sei es ein Fehlschluss zu sagen, man könne sich „später darum kümmern“. Schnell und dringend müssen die Kompetenzen, Bedarfe und Bedürfnisse älterer Menschen bei der Erforschung und Entwicklung digitaler Technologien noch mehr berücksichtigt werden. Ein richtiger Ansatz ist das Maßnahmenpaket der Landesregierung „Stärker aus der Krise“ mit 1,2 Mrd. Euro Volumen, hauptsächlich für Forschung und Entwicklung in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Ebenso wichtig und richtig ist der Ausbau der Breitbandversorgung und von 5G. Denn die digitale Grundversorgung ist ein Teil der Daseinsvorsorge für die Menschen im Land – alle Hochaltrigen mit eingeschlossen.