Sterbehilfe – die Politik ist gefragt
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben
Bei der digitalen Landesvorstandssitzung am 27. April 2021 informierte Markus Grübel, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Esslingen, über den aktuellen Stand aus rechtlicher Sicht. Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom Februar 2020 gibt es für Menschen in jeder Lebensphase ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die Hilfe zur Selbsttötung ist straffrei, aber niemand ist verpflichtet, Suizidhilfe zu leisten. Damit wird das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe zwar aufgehoben, doch viele ethische und praktische Fragen bleiben ungeklärt. Der Gesetzgeber steht vor dem Dilemma, einen schonenden Ausgleich zwischen zwei Grundrechten zu finden: dem Lebensschutz durch den Staat sowie dem Recht auf Autonomie des Individuums. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte kürzlich in einer Orientierungsdebatte im Bundestag, dass die Hürden zur assistierten Selbsttötung sehr hoch sein müssten. Dieser Ansicht schließen sich auch die Vorstandsmitglieder der Senioren-Union Baden-Württemberg an. Beantwortet werden müssten vom Gesetzgeber die Fragen zu Beratungs- und Begutachtungspflichten, zu vorgeschriebenen Wartezeiträumen, aber auch der Zugang zu dem tödlich wirkenden Medikament Natrium-Pentobarbital und dessen Handling.

Öffentliche Diskussion gewünscht
Markus Grübel wünscht sich eine breitere öffentliche Diskussion und ein höheres Bewusstsein in der Bevölkerung für die zweischneidigen Aspekte der Beihilfe zur Selbsttötung. Der selbstbestimmte, voll aufgeklärte Mensch mit eindeutig nachvollziehbarem Sterbewunsch stelle, so Grübel, die absolute Ausnahme dar. Vielmehr handele es sich meist um psychisch Erkrankte oder Suchtkranke, deren Suizidwunsch eher als Aufschrei gegen ihre Lebenssituation zu verstehen sei. Hier müsse es um eine Verbesserung von Präventionsstrategien in allen Bereichen der medizinischen und sozialen Betreuung gehen.
Einige Gruppierungen von Bundestagsabgeordneten haben zurzeit Gesetzesentwürfe entwickelt, die aus Sicht der Senioren-Union eher in Richtung „Ermöglichungsgesetz“ gehen und kritisch zu bewerten seien. Grundsätzlich dürfe Selbsttötung nicht zum Normalfall am Ende des Lebens werden. Druck und Einflussnahme durch Dritte müsse genauso wirksam verhindert werden wie jede Form der Gewinnorientierung.
Das Bundesgesundheitsministerium wird voraussichtlich keinen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, sondern es werden verschiedene interfraktionelle Gesetzentwürfe zur Abstimmung kommen. Jeder Abgeordnete ist dabei nur seinem Gewissen verpflichtet – es wird keinen Fraktionszwang geben. Die ursprünglich vorgesehene Verabschiedung eines Gesetzes noch in dieser Legislaturperiode erscheint allerdings nicht mehr realistisch.
Pflege geht nicht im Home-Office
Ebenfalls am 27. April 2021 war Frau Dr. Franziska von Stetten zu Gast, die Leiterin des von ihrer Familie gegründeten und erfolgreich geführten Altersruhesitzes Residenz Schloss Stetten bei Künzelsau und Bad Mergentheim. In diesem einzigartigen „Seniorendorf“ leben in zwanzig verschiedenen Häusern und einer Pflegestation ca. 300 Personen, im Durchschnitt achtzig Jahre alt, für die eine eigene Infrastruktur aufgebaut wurde. Es gibt betreutes Wohnen, ambulante Betreuung, aber auch einen Pflegebereich. Frau Dr. von Stetten berichtete anschaulich von den Herausforderungen, die sich speziell bei der Pflege stellen. Man brauche dafür viele Mitarbeiter, viele helfende Hände, die immer da sein müssten.

„Pflege geht nicht im Home-Office“, sagte Frau Dr. von Stetten, trotzdem habe man in ihrer Einrichtung die Pandemie gut bewältigt. Als belastend für die Pflegekräfte bezeichnete Frau Dr. von Stetten vor allem die überbordende Bürokratie. „Was nicht aufgeschrieben wird, zählt nicht“ – doch die Dokumentation sei mit hohem zeitlichen Aufwand verbunden.
Bei der Sterbebegleitung, die in einer Seniorenresidenz unweigerlich dazu gehört, sei die Palliativmedizin ein absoluter Segen. Darüber hinaus versuche man in ihrer Einrichtung den Menschen so viel Freude wie möglich zu vermitteln und Trost zu spenden. Wenn eine Lebensteilnahme nicht mehr möglich sei, werde der sterbende Mensch in dem familienähnlichen Umfeld von Schloss Stetten so gut wie möglich versorgt. In einer Atmosphäre, die von menschlicher Wärme, Respekt und Wertschätzung geprägt ist – so die Familien- und Firmen-Philosophie der Familie von Stetten – kann das Leben würdevoll beendet werden, auch dank der Palliativmedizin.
Assistierter Suizid keine ärztliche Aufgabe
Die Palliativmedizin und darüber hinaus die kirchliche Sicht auf die Sterbehilfe standen bei der Landesvorstandssitzung am 20. Mai 2021 als Themen auf der Tagesordnung. Frau Dr. med. Nicole Pakaki, als Hausärztin in Kornwestheim und im Team der spezialisierten Palliativversorgung (SAPV) des Landkreises Ludwigsburg tätig, berichtete von einem aktuellen Fall aus ihrer Praxis. Ihr Patient (genannt) Ingo, 45 Jahre alt, bekam vor einem Jahr die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Es handelt sich um die Krankheit, unter der auch Stephen Hawking litt.
Durch eine fortschreitende und irreversible Schädigung der Nervenzellen kommt es zu einer Lähmung aller Körpermuskeln, schließlich auch der Atemmuskulatur, sodass der Patient künstlich beatmet werden muss. Ingo ist gut informiert, er hat miterlebt, dass ein Freund mit Mitte 50 qualvoll an ALS verstorben ist. Um diesem Schicksal zu entgehen, wünscht sich Ingo einen ärztlich assistierten Suizid mit der Möglichkeit allein zu versterben. „Ein klassischer Palliativpatient, der nicht depressiv ist“, beurteilt Dr. Pakaki diesen Fall. Doch sie und ihr Team führen keine ärztlich assistierten Suizide durch. Sie habe mit Ingo besprochen, dass er durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken sterben könne, doch das wäre ein langsames Sterben. Die Möglichkeit einer palliativen Sedierung sei, so Dr. Pakaki, nur bei einem unstillbaren Leiden, etwa schwerer Atemnot und Schmerzen, vertretbar. Ein psychisches Leiden zähle nicht dazu, weil dieses nicht messbar sei. Aber wer entscheidet, wann ein Patient wie viel leidet? Wer entscheidet, wie ein würdevoller Tod aussieht?

Sterbewünsche sind, so Dr. Pakaki, ein Ausdruck von Verzweiflung. Eine solche Situation erfordere viele Gespräche, auch spiritueller Art. Dr. Nicole Pakaki vertritt die Auffassung, dass der assistierte Suizid keine ärztliche Aufgabe sei: „Wir wollen als Ärzte Leben nicht verlängern, aber auch nicht verkürzen.“ Bei schwerkranken Patienten sei der Wunsch nach Sterbehilfe ihrer Meinung nach noch nachvollziehbar, doch Dr. Pakaki kritisiert, dass die aktuelle Gesetzgebung keinen Unterschied mache zwischen wirklich Schwerstkranken und nur „lebensunwilligen“ Patienten. Ein typisch „lebensunwilliger“ Mensch stand zum Beispiel im Mittelpunkt der Fernsehsendung „Gott“ von Ferdinand von Schirach. Bei diesem Fernsehschauspiel hatten 80 Prozent der Zuschauer für einen ärztlich assistierten Suizid plädiert – aus Dr. Pakakis Sicht völlig unverständlich und keine Aufgabe, die man Ärzten zumuten könne.
Das Leben als Geschenk Gottes
Thomas Maria Renz, Weihbischof im Bistum Rottenburg-Stuttgart, erläuterte die Haltung der katholischen Kirche zum assistierten Suizid. Dem christlichen und auch jüdischen Grundverständnis nach sei Leben ein Geschenk Gottes. Durch diesen Geschenkcharakter sei das Leben der eigenen Verfügbarkeit entzogen. Dass der Mensch sich „vorfinde“, verdanke er anderen, vor allem Gott.
Im Alten Testament werde es so formuliert, dass Gott den Menschen geliebt und ins Leben gerufen habe, bevor er selbst in der Lage war sich wahrzunehmen. Der Wille Gottes und nicht der eigene Wille stehe am Anfang des Lebens. Keiner habe sich selbst das Leben geschenkt, das gelte auch für Ungläubige. Wenn aber der Anfang des Lebens dem eigenen Willen aus Überzeugung entzogen sei, so gelte dies auch für das Ende. Für Christen sei klar, dass ihr Leben ihnen nicht selber gehöre. Beides, Lebensbeginn und Lebensende sei geprägt durch Fragilität und Angewiesenheit auf andere, sagte Renz. Dennoch respektiere Gott die freie Willensentscheidung eines Menschen. Denn er habe die Menschen als Wesen mit freiem Willen geschaffen. „Wo der Geist des Herrn wirkt, ist Freiheit.“ Mit dieser Spannung zwischen einerseits dem Willen Gottes und dem freien Willen des Menschen tue sich die Kirche bis heute schwer, sagt Renz.

In früheren Jahrzehnten hätten Menschen, die ihr Leben selbst beendet haben, nicht auf christlichen Friedhöfen beerdigt werden dürfen, weil man davon überzeugt war, sie hätten gegen Gottes Willen verstoßen. Heute habe auch die katholische Kirche ihr Verständnis verändert und akzeptiere Willensakte des Menschen. Doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe man im letzten Jahr mit großer Sorge zur Kenntnis genommen. Im ökumenischen Konsens gaben der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Marx, und der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Bedford-Strohm, eine Stellungnahme ab und äußerten die Befürchtung, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen würden, diese auch zu nutzen.
Renz betonte, dass er persönlich großes Verständnis habe für den geschilderten Sterbewunsch des Patienten Ingo. Doch der Suizid dürfe in Deutschland keinesfalls zur normalen Sterbevariante werden. Wichtig sei aus Sicht von Renz, die bestehenden Angebote zur Hospiz- und Palliativversorgung wesentlich auszubauen und zu verbessern – auch mit Investitionen der Kirche.
Palliativversorgung verbessern, Hospizplätze schaffen
In den sich anschließenden Diskussionen zwischen den Gästen und den Landesvorstandsmitgliedern wurde sehr deutlich, dass es in Deutschland keinesfalls ein flächendeckendes Angebot für assistierten Suizid geben darf. Es müssen aber auch Bedingungen geschaffen werden, dass ein „sozialverträglicher Tod“ gar nicht erst in Erwägung gezogen werden muss. Es dürfe weder sozialen noch familiären Druck auf Menschen am Lebensende geben. „Wir brauchen einen Schutzraum für Menschen in schwierigsten Lebenssituationen“, betonte Weihbischof Renz. Die deutschen Bischöfe haben, so Renz, im Februar 2021 neue Arbeitshilfen zur palliativen und seelsorgerischen Begleitung von Sterbenden mit unterschiedlichen Vorschlägen für Spiritual care und Palliativ care entwickelt. Damit müsse man verhindern, dass der assistierte Suizid zu einer „normalen Variante des Sterbens“ werde. An die Politik gerichtet wünscht sich Renz, dass die Erfüllung eines Sterbewunschs die absolute Ausnahme bleiben müsse.

Mitglieder des Landesvorstands der Senioren-Union - online
Frau Dr. Pakaki schloss sich der Forderung nach Schutzräumen für schwerstkranke Palliativpatienten an. Mit Bedauern verwies sie auf die bestehenden, ihrer Erfahrung nach dramatischen Defizite in der ambulanten Palliativversorgung: Die ganz große Mehrheit der Sterbenden habe keinen Zugang zur Palliativmedizin. Es gebe auch keinen „Facharzt für Palliativmedizin“ sondern nur eine Zusatzbezeichnung. Auch die Hospizversorgung müsse dringendst verbessert werden. Es könne nicht sein, dass es lange Wartelisten für Hospizbetten gebe, das sei ein Widerspruch in sich. Im Landkreis Ludwigsburg mit ca. 500.000 Einwohnern gebe es gerade einmal zehn Hospizbetten. In Stuttgart sehe die Situation mit zweimal acht Betten in zwei Hospizen kaum besser aus.
Doch man dürfe den Blick nicht ausschließlich auf Krebspatienten am Lebensende richten. Auch die sehr große Gruppe von Menschen, die an schweren Depressionen erkrankt sind, müssen Hilfe und Ansprechpartner finden. Dr. Pakaki forderte, die Fachgesellschaft der Psychiater unbedingt in die Beratungen zur Sterbehilfe mit einzubinden. Einig war man sich in der Diskussion auch, dass Sterbehilfe keinesfalls ein Geschäftsmodell sein dürfe.
Der Vorstand des Landesverbands beschloss, das Thema Sterbehilfe weiter zu verfolgen und einen Antrag mit Forderungen zur Stärkung der Palliativ- und Hospizangebote bei der diesjährigen Bundestagung der Senioren-Union einzubringen.
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