„Ich erwarte von der Politik einen klaren Plan.“
Dr. Lisa Federle im Gespräch mit Reinhild Berger
Frau Dr. Federle, Sie sind untrennbar verbunden mit dem „Tübinger Modell“ der Pandemie-Kontrolle und -Bekämpfung. Mit diesem Projekt waren Sie bundesweit in vielen Medien präsent und beeindruckten vor allem in Fernseh-Talkshows. Die Menschen haben Sie dabei als unkonventionell kritisch, kraftvoll zupackend und offen für kreative Lösungen erlebt. Wie kam es dazu, dass Sie in der lokalen Corona-Politik so konsequent Ihren speziellen Weg gehen konnten?
Dr. Federle:
Ja, ich bin durchaus die Architektin des Tübinger Modells. Als Pandemiebeauftragte habe ich bereits Anfang März 2020 mit Testen angefangen und eine Fieberambulanz organisiert. Ich bekam damals viel Rückendeckung vom Landratsamt, insbesondere von Landrat Joachim Walter. Im Oktober 2020 habe ich dann angefangen, die Altersheime in Tübingen mit kostenlosen Schnelltests zu versorgen und auch das Personal entsprechend einzulernen. Ab November haben wir – auch im Hinblick auf weihnachtliche Familienbesuche – mit Unterstützung von Ehrenamtlichen kostenlos Schnelltests für die Angehörigen durchgeführt. Denn ein Schüler, der seinen Großvater nicht der Gefahr einer Ansteckung aussetzen wollte, hätte sich kaum die 35 Euro für einen Test leisten können.
Mit dieser Aktion haben Sie erreicht, dass die Infektions- und auch Todeszahlen Ende 2020 in Tübingen vergleichsweise niedrig waren.
Dr. Federle:
Ja, die Kurve ging nach unten. Im Januar 2021 waren wir der erste Landkreis in Baden-Württemberg, in dem die Inzidenz unter 50 lag. Wir haben dann überlegt, dass wir den Menschen eine kontrollierte Öffnung des Lockdowns anbieten können – mit testen, testen, testen. Oberbürgermeister Boris Palmer reagierte sofort positiv auf diese Idee. So entstand dann das Tübinger Modell „Öffnen mit Sicherheit“.
Und Sie erhielten bundesweit hohe Aufmerksamkeit. Fröhliche Menschen saßen – nach einem negativen Corona-Schnelltest – in Straßencafés und durften im Einzelhandel einkaufen. Leider erlebte Tübingen einen Ansturm von Tagestouristen aus ganz Baden-Württemberg – die Stadt musste sich abschotten. Waren Sie ein Opfer Ihres eigenen Erfolgs?
Dr. Federle:
Ja, wir sind dann leider ausgebremst worden, sehr bedauernswert, es wäre extrem wichtig gewesen, das Projekt mit wissenschaftlicher Begleitung weiterzuführen, um Daten zu sammeln und die Entwicklung der Situation zu beobachten, allerdings mit stärkeren Kontrollen. Ich habe das Modell ins Leben gerufen, um den Menschen in Tübingen eine Perspektive zu bieten und zu schauen, ob es eben nicht anders geht, als nur alles dicht zu machen. Aber ich wollte mich auch nicht als Event-Managerin betätigen. Ich bin Ärztin und mein Anliegen ist es, den Menschen in der Krise Mut zu machen und zu helfen.
Die Bundesnotbremse hat Sie dann Ende April endgültig ausgebremst.
Dr. Federle:
Ja, der Bundestag hat gegen uns gestimmt. Aber ich behaupte immer noch, die Wissenschaftler hätten es eher befürwortet, das Tübinger Modell fortzusetzen. Unser Vorteil war ja, dass wir durch das viele Testen in Deutschland die wohl niedrigste Dunkelziffer bei den Infektionen hatten.
Halten wir noch mal Rückschau auf die gesamte Zeit der Pandemie. Was ist gut gelaufen, was nicht, woraus könnte man lernen?
Dr. Federle:
Positiv sehe ich, dass ich wahnsinnig viel Unterstützung bekommen und viele Menschen sich ehrenamtlich engagiert haben. Ich war allerdings oft verzweifelt darüber, dass es immer wieder so lange dauerte, bis die Politik zu bestimmten Dingen bereit war. Bereits im Frühjahr 2020 habe ich für das Testen in den Altersheimen plädiert. Ich wurde abgefertigt mit der Antwort, ich könnte dann die Kosten dafür beim Sozialgericht einklagen. Wir haben es dann trotzdem gemacht. Bereits auf der ersten getesteten Station waren 16 von dreißig Personen positiv, die sind teilweise verstorben. Während der gesamten Krise habe ich die Probleme immer im Voraus gesehen und ich habe versucht zu kämpfen, was viel Kraft gekostet hat. Es hat einfach zu lange gedauert, bis die Regierung die Expertise der Menschen mit eingebunden hat, die direkt vor Ort tätig sind. Es wurde meist nur auf die Virologen gehört, die jedoch häufig eine andere Sichtweise auf die Themen hatten.
Wie haben Sie trotzdem durchgehalten?
Dr. Federle:
Ich bin ja Notärztin, das heißt, wenn ich Not sehe, reagiere ich und kann nicht ewig zugucken. Das war 2015 auch so, als wir die Situation mit der Not der vielen Flüchtlinge hatten. Als Präsidentin des DRK habe ich mich sofort mit meinem Team getroffen und wir haben so gut es ging gehandelt. Wir waren mit die ersten, die überhaupt getestet haben.
Sie sind bewundernswert aktiv. Das zeigt auch Ihr allerneuestes Projekt, die aktuelle Gründung des Vereins „BewegtEuch“. Was steckt dahinter?
Dr. Federle:
Zuerst haben wir in der Corona-Krise den alten Menschen geholfen, jetzt haben wir gemerkt, dass besonders die Kinder die Leidtragenden sind. Der gerade ins Leben gerufene Verein „BewegtEuch“ wird von vielen Prominenten ehrenamtlich und finanziell unterstützt. Mit-Initiatoren sind Schauspieler Jan Josef Liefers und Fernsehmoderator Michael Antwerpes. Es geht darum, Kindern aus benachteiligten sozialen Schichten die Teilhabe an Sportkursen, die Mitgliedschaft in Sportvereinen und den Kauf von Sportspezialkleidung zu finanzieren und generell die Bewegung an der frischen Luft zu fördern. Es reicht jetzt nicht, den Kindern nur ein Angebot an Sozialarbeit und Nachhilfe in schulischen Fächern zumachen. Sondern sie brauchen auch etwas für die Seele. Das kann der Sport leisten.
Mit welchem Gefühl gehen Sie jetzt, in Bezug auf die Corona-Situation, in den Sommer?
Dr. Federle:
Ich habe Bedenken, denn den letzten Sommer habe ich mit Grauen in Erinnerung. Wenn ich mir jetzt Gedanken mache, wie es weitergeht, möchte ich in erster Linie die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Ich erwarte von der Regierung – und auch von der kommenden Regierung – einen klaren Plan, wie wir in Zukunft mit der Corona-Thematik umgehen. Wenn wir zum Beispiel im Herbst eine dritte Impfung brauchen – wie wird diese geregelt sein? Es kann nicht sein, dass Menschen wieder frustriert in Telefonwarteschleifen hängen. Es muss klare Regeln dafür geben, dass die Hausärzte ihre Patienten und dass mobile Impfteams die Heimbewohner erneut impfen. Ich erwarte auch, dass die Digitalisierung vorangetrieben wird und die Daten schnell und sicher übertragen, dass Infektionswege schnell rückverfolgt werden können. Wir müssen auch weiterhin Tests anbieten, wenn die Infektionszahlen wieder zunehmen sollten. Und wir müssen einen Plan und auch einen Plan B haben für den Fall, dass es neue Mutanten gibt.
Wenn Sie die Pandemiebeauftragte der Bundesregierung wären, was würden Sie sofort in die Wege leiten?
Dr. Federle:
Ich würde mich sofort mit anderen Fachexperten beratschlagen und meine praktischen Erfahrungen mit einbringen. Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie voraussetzt, dass Corona die Menschen weiterhin sehr interessiert. Wir müssten den Sommer nutzen, um eine klare Strategie und Programme zu erarbeiten. Es gibt noch viel Arbeit. Das Impfen wird sicher weitergehen.
Was ist Ihre Botschaft an die Politik?
Dr. Federle:
Wir müssen als CDU alles dafür tun, um den Menschen zu zeigen, dass wir ihre Sorgen und Nöte richtig ernst nehmen. Die Menschen wollen sich auch in der Krise aufgehoben fühlen und erwarten, dass die Politiker verantwortungsvoll mit allen Themen umgeben. Wir dürfen nicht sagen, jetzt sind die Inzidenzen unten und alles ist abgehakt. Impfen ist für die Bevölkerung ein sehr wichtiges Thema. Jeder möchte wissen, ob er ein drittes Mal geimpft und wie das organisiert wird. Auch die Ärzte fühlen sich von der Politik nicht ernst genommen. Sie bekommen 20 Euro pro Impfung, die mit aufwändigen Dokumentationspflichten verbunden ist. Die Schnelltestbetreiber ohne große Fachkompetenz bekommen 18 Euro pro Test – und diese machen mal eben 100 Tests pro Stunde. Gerne hätte ich gerade im Hinblick auf die Schnelltests der Politik meine Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Man hätte vieles, was jetzt schiefgelaufen ist, vermeiden können.
Frau Dr. Federle, vielen Dank für das Gespräch!
Foto: Raimund Weible