Zu Beginn des Jahres 2021, als das Corona-Virus das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben hierzulande noch nahezu lahm legte, hat der Landesvorstand der Senioren-Union Baden-Württemberg einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, aus dem einiges nur Monate später bundesweit auf die politische Tagesorednung gelangte. Im Kern handelt es sich um Erkenntnisse, an welchen Stellen Risiken lauern, die zu eben solchen Auswirkungen wie durch die Corona-Krise führen können.
Der Maßnahmenkatalog im Wortlaut:
Gesellschaft und Wirtschaft unter Druck
Die Corona-Pandemie hat, hinausgehend über den bis an den Rand der Leistungsfähigkeit gebrachten Medizin- und Gesundheitssektor, insbesondere die Anfälligkeit unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems als hochkomplexes und hochempfindliches Gefüge in derartigen Krisen aufgezeigt. Menschen und Unternehmen müssen auf der einen Seite um ihre Existenz fürchten. Auf der anderen Seite wird die temporäre Einschränkung von alltäglichen Wohlstandsfreiheiten als Entzug von Grundrechten interpretiert. Es zeigt sich, dass solidarisches Verhalten, Handeln aus Überzeugung und persönliche Rückbesinnung auf das Wesentliche kein selbstverständliches und ausdauerndes Allgemeingut ist. Darüber zu klagen mag nachvollziehbar sein, gleichwohl führt es nicht zu einer Lösung, weder in der Gesellschaft, noch in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Vielmehr ist die Kernfrage zu stellen, ob die durch die Corona-Pandemie erzeugte sogenannte „neue Normalität“ eigentlich nur die mit wirkungsmächtigen Problemen zu Tage geförderte „alte Normalität“ ist und am Ende über eine grundsätzliche Neuorientierung – in Wirtschaft und Gesellschaft – nachgedacht werden muss.
Die Senioren-Union Baden-Württemberg will angesichts der gegenwärtigen Krise und mit gebündelter Lebenserfahrung Anstöße zu einer Neuorientierung in Politikfeldern geben, die sich aufgrund der globalen Zusammenhänge als besonders risikobelastet erwiesen haben.
Eine solche Neuorientierung verlangt eine Vorausschau, aus der sich dann Empfehlungen für vorbeugende Richtungsentscheidungen ergeben, die sich übrigens nicht nur auf Pandemien beziehen müssen. Grundsätzlich sollte darüber Klarheit bestehen, welche Ausdrucksformen – solidarisch, human, sozial – unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zukünftig prägen sollen.
Solidarische Gesellschaft
Eine solidarische Gesellschaft funktioniert nicht mehr auf Zuruf, sie braucht als Fundament gesellschaftlich verankerte Wertvorstellungen, also eine „Bürgerliche Compliance“, welche die Freiheiten des Anderen als Grenzen individueller Freizügigkeiten definiert und Arbeit und Bildung vor persönliche Annehmlichkeiten stellt. Die Überzeugungsarbeit hierzu muss in der Schule, in der Berufsausbildung und an der Hochschule beginnen und Fortsetzung finden in den Betrieben, Organisationen, Institutionen, Verbänden, Vereinen und nicht zuletzt in den politischen Parteien, die in Form von kollektiven Aktivitäten im gesellschaftlichen Leben praktische Solidarität üben und vorleben sollen und können.
Solidarität ist zudem der Blick auf das Wesentliche. So müssen folglich die Berufe der Grundversorgung durch praktische Einbettung in Lehr- und Ausbildungspläne sowie Curricula allen jungen Menschen nähergebracht werden. Dies fördert das Verständnis und schafft Personalressourcen für Krisenzeiten, in denen kurzfristig und temporär Personalkapazitäten aufgestockt werden müssen.
Solidarität bedeutet am Ende aber auch, anderen den Lohn für solidarisches Tun zu gönnen und zu geben. Zeichen können hier gesetzt werden, u. a. mit einer Sozialkasse für Berufe der Grundversorgung zur Aufbesserung der Rente oder eine deutlich stärkere Steuervergünstigung für ehrenamtliche Arbeit.
Humane Gesellschaft
Eine humane Gesellschaft muss Maßstäbe für das menschliche Miteinander setzen und der Zuwendung hin zu schwachen, einsamen und nicht lautstarken Mitmenschen Priorität geben. Damit verbunden ist die soziale Vor- und Fürsorge.
Der persönliche Kontakt, die individuelle Ansprache, Beisammensein und Zuwendung sind – zu jeder Zeit und in jeder Lebensphase – vor allem für ältere oder alleinstehende Menschen essentiell wichtig. Die bitteren Erfahrungen in der Corona-Pandemie, wenn Menschen isoliert leben oder einsam aus dem Leben scheiden müssen, dürfen sich unter keinen Umständen mehr wiederholen, seien es Pandemien oder andere Krisen.
Wo persönliche Begegnungen nicht oder nur eingeschränkt möglich sind, hat sich die digitale Kommunikation als eine – für bestimmte Bevölkerungsgruppen bis dato nicht für durchsetzbar erachtete – Alternative bzw. Option herausgestellt. Gezeigt hat sich aber auch, dass Nachholbedarf nicht nur beim flächendeckenden Ausbau von Breitband- und Mobilfunkverbindungen besteht, sondern dass gerade in Krankenanstalten, Alten- und Pflegeheimen sowie vergleichbaren gemeinschaftlichen Wohnformen ein besserer Zugang zum Internet geschaffen werden muss. Dies erfordert nicht nur eine leistungsfähige technische Infrastruktur in den Einrichtungen sowie entsprechende Systeme mit Blick auf die Bedürfnisse der damit nicht vertrauten Menschen, sondern zusätzlich für diese eine individuelle Unterstützung, Einweisung und Schulung bei der Anwendung der digitalen Gerätschaften und Plattformen.
Soziale Gesellschaft
Der Wert menschlicher Arbeit kann sich nicht dauerhaft in höchst unterschiedlichen Preisen, d. h. Lohnniveaus, bemessen lassen. Weltweit muss daher einer globalen Werteorientierung Geltung und Durchschlagskraft verschafft werden, die soziales mit ökologischem und ökonomischem Handeln verbindet („Corporate Social Responsibility“) und damit die Unternehmen in eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung nimmt, was schließlich auch für faire Entlohnung und zeitgemäße Arbeitsbedingungen sorgt. Ohne eine globale Klammer werden nationale Initiativen freilich zum eigenen wirtschaftlichen Nachteil führen. Aber auch die Sichtweise auf die Arbeitswelt muss sich hierzulande ändern, wobei die aktuelle Differenzierung zwischen systemrelevanten und nicht systemrelevanten Berufen nicht zielführend erscheint. Ein besonderes Augenmerk liegt indes auf der Erfüllung sozialpolitischer Zielsetzungen und Vorgaben vor allem auch dann, wenn Unternehmen für erbrachte Leistungen Sozialkassen oder andere stattliche Budgets beanspruchen.
Paradigmenwechsel
Übersehene Risiken sind die Krisen oder Katastrophen von morgen. Was im klinischen Bereich derzeit geschieht, öffnet davor die Augen, dass der Risikoforschung und der Prävention in allen Arbeits- und Lebensbereichen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Für identifizierte Risiken müssen jenseits von Eintrittswahrscheinlichkeiten Vorkehrungen getroffen werden. Dem Katastrophenschutz heutiger Prägung ist somit ein Krisenschutz voranzustellen auf der Grundlage eines ständigen Risikomanagement-Stabes aus Wissenschaft, Wirtschaft, Sozialwesen, Kirchen und Verwaltung.
Zugleich gilt es, Abhängigkeiten zu minimieren, die sich im Falle von Krisen negativ auswirken. So sind jene in andere Länder bzw. Kontinente führende Lieferketten auf den Prüfstand zu stellen, deren Stabilität und damit die Versorgungssicherheit nicht garantiert ist. Denn Pandemien, Naturkatastrophen oder staatliche Repressalien – siehe Handelskonflikt zwischen China und Australien – machen ohnmächtig bis erpressbar. Um Ver- und Besorgungsengpässen in Wirtschaft und Gemeinwesen vorzubeugen und ein wenn auch nur temporäres Kollabieren der Systeme zu verhindern, sind daher grundsätzliche Veränderungen in Deutschland und Europa auf den Weg zu bringen, die zugleich ein entscheidender Schritt in ein neues Verständnis über ökonomische, ökologische und soziale Grundlagen sein können.
Handlungsfähigkeit in Versorgung und Produktion
Während die Hamstereinkäufe in den Supermärkten wenigstens noch geeignet für die satirische Betrachtung sind, muss die Vorstellung, dass produktions- und lebenswichtige Prozessketten unterbrochen werden, zum Handeln herausfordern. So haben die Engpässe in Intensivstationen im benachbarten Ausland offenbart, wohin begrenzte Kapazitäten führen können. Auch in Deutschland sind sie begrenzt, wenngleich auf einem höheren Niveau. Gleichwohl drängt sich ein Ausbau dieser Kapazitäten auf, was lokale Engpässe bereits untermauern.
Für medizinische und pflegerische Einrichtungen muss parallel zur Versorgungssicherung in Krisenzeiten auch die Planungssicherheit im Normalbetrieb gewährleistet werden. Einkaufs-/Beschaffungs- und Vertriebsgenossenschaften zur Schaffung von Nachfragemacht – auch als Antwort auf marktbeherrschende oder gar unethisch handelnde Unternehmen – sind ein Lösungsansatz. Darüber hinaus ist die Integration künstlicher Intelligenz in ausgewählte medizinische und pflegerische Einrichtungen (Robotik/Roboter, digitale Kommunikation, Telemedizin) mit einem groß angelegten Investitionsprogramm voranzubringen.
Für eine in Notfällen kurzfristig erforderliche Schaffung alternativer Versorgungsorte ist per se die Multifunktionalität von öffentlichen Einrichtungen (insb. Versammlungsstätten) herzustellen. Dazu wird eine – meist ohnehin nötige – Aufrüstung der technischen Infrastruktur (u. a. Stromnetz, Datenleitungen, lokale Serverkapazitäten) erforderlich, um die Anforderungen an ein „Intelligentes Gebäude“ (Smart Location) zu erfüllen. Für solche Investitionen ist auch privates Kapital – z. B. in Form von Immobilienfonds – zu erschließen.
Zur Überbrückung von jäh unterbrochenen Prozess- oder Lieferketten sind einerseits höhere Lagerbestände für den aktuellen Bedarf an Fertig- und Halbfertigteilen und anderseits kurzfristig mobilisierbare Produktionskapazitäten in Form von adaptierten (oder auch redundanten) Fertigungslinien für die mittelfristige Versorgung zu schaffen. Steuerliche bzw. bilanztechnische Anreize für Unternehmen sind dazu angebracht.
Bei Abhängigkeit von Rohwaren oder Grundstoffen, die auf den internationalen Warenmärkten bezogen werden, sind Bevorratungskonzepte umzusetzen, die in der Lage sind, Lieferunterbrechungen oder -engpässe zu überbrücken, bis die jeweils notwendigen alternativen Produktionskapazitäten (im Inland und/oder im EU-Raum) aufgebaut sind. Darin ist eine auch gemeinschaftliche Aufgabe der Europäischen Union für alle Mitgliedsländer zu sehen.
Wirtschaftsstandort
Deutschland und die Europäische Union müssen als Wirtschaftsstandort generell autarker werden. Einseitige Abhängigkeiten von Märkten und Marktteilnehmern, auf die kein wirksamer politischer Einfluss ausgeübt werden kann, sind sukzessive abzubauen. Ziel muss – vor allem bei sensiblen Gütern bzw. standortprägenden Produktionszweigen – eine höhere gesamtwirtschaftliche Fertigungstiefe sein, was auch die Rückverlagerung von Produktionsstätten an den Wirtschaftsstandort Deutschland bzw. in die Europäische Union als Wirtschaftsgemeinschaft – flankiert mit zwischenstaatlichen Treuhandverträgen – einschließt. Auch der Energiesektor und Informationstechnologien sind hier ausdrücklich angesprochen.
Bei Rückverlagerungen von personalintensiven Produktionen ist angesichts des Kostendrucks übergangsweise staatlich zu fördern (steuerliche bzw. bilanztechnische Anreize). Damit dies in der Folge tatsächlich nicht zu einer dauerhaften Subventionspraxis oder gar zu neuerlichen Auslagerungen führt, sind solche Produktionen sukzessive mittels Robotik-Lösungen – begleitet von staatlich alimentierten Forschungseinrichtungen – zu automatisieren. Letzteres muss auch auf landwirtschaftliche Produktionsprozesse ausgedehnt werden. Solche Konzepte haben zugleich eine erhebliche ökologische Wirkung, weil Transportwege verkürzt werden.
Eine Risikominimierung im globalen Wirtschaftskreislauf ist – parallel zu Rückverlagerungen – auch mit einer Risikostreuung zu flankieren. Eine stärkere geografische/geopolitische Verbreitung der Betriebsteile von Unternehmen ist hier durchaus eine Option, mit der zugleich eine weitere globale Herausforderung angenommen werden kann, nämlich die wirtschaftliche Förderung von Drittländern, insbesondere in Afrika. Eine neue Ausrichtung der Entwicklungshilfepolitik bietet sich dazu an, zumal dies auch mehr Unabhängigkeit der unterentwickelten Länder von einzelnen dominierenden Volkswirtschaften schafft und den ökonomisch bedingten Migrationsdruck mindern kann.
Auch weil Wirtschaftspolitik gesellschaftspolitische Wirkungen erzeugt, kann eine staatliche Mitwirkung an wirtschaftlichen Prozessen nicht ausgeklammert werden. Sie soll dabei aber weniger insistierend, sondern vor allem stimulierend agieren. In diesem Zusammenhang ist die finanzielle Förderung von Branchen und Unternehmen durch Bundesländer, Bund oder Europäische Union innerhalb und außerhalb von Krisenzeiten fortan grundsätzlich daran auszurichten, ob damit dem Strukturwandel, einer werteorientierten Unternehmenspolitik („Corporate Social Responsibility“) und der Schaffung zukunftsorientierter Arbeitsplätze gedient wird.
Um generell für Zukunftsbranchen ein maßgeblicher Standort zu sein bzw. zu werden, sind im Inland bzw. im europäischen Wirtschaftsraum die Rahmenbedingungen für Startups massiv zu verbessern. Auf der Grundlage von Infrastrukturfonds und einer Arbeitsteilung zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen (Private-Public-Partnership-Modelle) sowie in Kooperation mit Universitäten und Schlüsselindustrien sind dazu Ressourcen an ausgesuchten Universitätsstandorten zu bündeln, auch um die Attraktivität für Investoren zu erhöhen.
Blickpunkt Gesundheitswesen
Das Corona-Jahr 2020 hat gezeigt, dass Deutschland über ein leistungsfähiges, flexibles Gesundheitswesen auf technisch hohem Niveau und mit hochqualifiziertem medizinischem Personal verfügt. Jedoch haben sich im Laufe der Pandemie deutlich die Schwächen dieses Systems herauskristallisiert: Schon im Normalfall, ganz besonders aber in Notsituationen mangelt es an gut ausgebildeten Fachkräften, vor allem im Bereich der Intensivpflege. Das verfügbare Personal arbeitet ständig an der Grenze der Belastbarkeit und hat sich darüber hinaus häufig selbst infiziert, sodass es zu weiteren Ausfällen im Arbeitsablauf kam.
Um das Gesundheitssystem dauerhaft funktionsfähig zu halten, besonders auch in Pandemiezeiten, müssen alle medizinischen und pflegerischen Berufe dringend aufgewertet und vor allem zahlenmäßig ausgeweitet werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung dringend erforderlich.
Die Telemedizin hat durch die Corona-Krise einen Schub erfahren, der sich fortsetzen wird. Voraussetzung ist der Ausbau der dafür nötigen Digitalisierung auf allen Ebenen. Doch bei allen Vorteilen, die die Telemedizin mit sich bringt, muss eine flächendeckende, persönliche Gesundheitsversorgung vor Ort durch Arztpraxen, Apotheken und Pflegedienste gesichert bzw. ausgebaut werden. Das Angebot an Gesundheitsdienstleistungen, die von Fachpersonal direkt am Patienten erbracht werden, ist vor allem in ländlichen Regionen noch unterentwickelt. Außerdem muss im stationären Sektor eine leistungsfähige und ausgewogene Versorgung sowohl in den Ballungsgebieten als auch im ländlichen Raum sichergestellt werden. Sofern die Wirtschaftlichkeit der Vor-Ort-Gesundheitsversorgung nicht gegeben ist, müssen hierfür finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.
28. Januar 2021