Was auch immer an jenem Abend gesagt oder nicht gesagt bzw. gemeint oder nicht gemeint war: Der Bundeskanzler lebt nicht mehr die Fairness und den Respekt vor, die er von Anderen erwartet. Mal sind die politischen Wettbewerber “Hofnarren”, mal sind sie einfach nur “doof”. Natürlich stellt man sich die Frage, ob ein solches Verhalten in Erwartung einer politischen Niederlage erklärbar ist. Verhaltensforschung ist hier freilich nicht angebracht, skandalträchtige Worte allerdings auch nicht. Ganz nüchtern betrachtet zeigt sich, dass jetzt auch der eigene Glaube an die realitiätsfernen Sonntagsreden aufgebraucht ist.
Interessant bzw. erkenntnisreich ist das Begleitkonzert zu diesem Vorfall. Das Kanzleramt will Klage gegen “Focus” einreichen, weil dessen Bericht einen Rassismus-Vorwurf suggeriert haben und Formulierungen unterstellen soll, die nicht getätigt worden seien. Der Kanzler wehrt sich in seinen öffentlichen Erklärungen gegen die Vorwürfe, die er “absurd und künstlich konstruiert” nennt. Das ist alles legitim und wird dann am Ende wohl ein Gericht zu klären haben, wodurch aber auch der Öffentlichkeit erst einmal der Einblick entzogen wird. Der Gedanke, dass damit dieser Vorfall kurz vor der Bundestagswahl von der Tagesordnung genommen werden soll, lässt sich irgendwie nicht ganz verdrängen.
Zwischenzeitlich hat sich der Betroffene, Joe Chialo, Berliner Kultursenator und CDU-Mitglied, geäußert. “Herabwürdigend” und “verletztend” habe er die Äußerungen von Scholz gefunden. Neben “Hofnarr” sei auch das Wort “Feigenblatt” gefallen. Letzteres war bislang aus dem Umfeld von Scholz offenbar nicht zugegeben worden. Dies darf durchaus individuell interpretiert werden. Was jetzt schon bleibt, ist ein Stück weit Fassungslosigkeit. Ein Bundeskanzler, der nicht müde wird, Zweifel an der Redlichkeit der Union und Friedrich Merz zu nähren, räumt sich rhetorisch seinen egozentrischen Weg frei. Das ist übrigens nicht scharfzüngiger Wahlkampf, sondern völlig fehlende Sensibilität angesichts der aufgeladenen Auseinandersetzungen in der realen und in der virtuellen Welt. Beispielhaftes Vorangehen? Fehlanzeige!
Joe Chialo hat jetzt erklärt, die Angelegenheit sei für ihn nach dem Telefonat mit Scholz erledigt. Das ist zu respektieren und das ist auch nachvollziehbar angesichts der persönlichen Betroffenheit. Für Kanzler Scholz ist die Sache freilich nicht ausgestanden. Er muss sich nicht nur fragen lassen, ob er die vorbildhafte Funktion des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland noch verkörpert. Er muss sich auch selbst fragen, ob ihm bewusst ist, dass seine Äußerungen in einem Kontext gefallen sind, der durchaus unterschiedliche Interpretationen hervorrufen kann. Mit anderen Worten: Es kommt nicht allein auf das Gesagte an, sondern darauf, wie es ankommt – so auch bei den Wählerinnen und Wählern.